Intelligente Gruppen gestalten – Building Smart Groups
von Thomas Seeley

Thomas D. Seeley is professor of neurobiology and behavior at Cornell University

Originaltext: https://www2.ece.ohio-state.edu/~passino/2009v24.pdf , Santa Fe Institute Bulletin, 2009, vol. 24, Seite 10 – 12

Übersetzung: Harald Rausch

Viele Tiere, einschließlich Menschen, leben in hoch entwickelten Gesellschaften

Infolgedessen werden viele wichtige Entscheidungen nicht von einzelnen Personen getroffen, sondern von Gruppen, die gemeinsam entscheiden. Bei uns Menschen erstrecken sich diese Gruppenentscheidungen von einer Gruppe von Freunden, die ein Restaurant auswählen bis hin zu einem Staatsvolk, das eine Regierung wählt.

Ebenso verhält es sich in einem Schwarm von Fischen, einer Schar von Pavianen oder einem Schwarm von Bienen; auch hier müssen die Mitglieder der Gruppe Entscheidungen darüber treffen, wohin man geht, oder was man tut. Das grundsätzliche Rätsel ist nun dies: Wie kann eine Gruppe die Kenntnisse seiner Mitglieder verwenden, um eine optimale Vorgehensweise für die Gruppe als Ganzes zu wählen?

Das Problem der kollektiven Entscheidungsfindung hat Philosophen und Politikwissenschaftler seit  Plato herausgefordert. Viele waren skeptisch gegenüber der Entscheidungsfindung durch Gruppen. Henry David Thoreau schrieb zum Beispiel in seinem Journalin 1838: „Die Masse kommt nie auf das Niveau seiner besten Mitglieder, sondern ganz im Gegenteil, es verschlechtert sich auf das  Niveau dem der untersten.“ Ebenso schrieb Friedrich Wilhelm Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse im Jahre 1886: „Wahnsinn ist die Ausnahme in Individuen, aber die Regel in Gruppen.“

Die Natur jedoch zeigt uns viele Beispiele für kluge Tiergesellschaften  – beispielsweise  einen Zug von wandernden Gänsen beim Abflug oder einen Schwarm Honigbienen bei der Auswahl eines neuen Bienenstockes. Und wie James Surowiecki in seinem 2004 erschienen Buch „Die Weisheit der Vielen“ beschrieb, dass in einer Gruppe von Menschen mit der richtigen Organisation „die vielen klüger sind als die wenigen.“

Zum Beispiel ging es darum, die Anzahl der Geleebohnen in einem Glas abzuschätzen; der Durchschnittswert der von der Gruppe geschätzten Menge ist oft genauer als die beste Einzelschätzung. Kürzlich organisierten John H. Miller, ein Wirtschaftswissenschaftler an der Carnegie Mellon University und Teilzeit-Forschungsprofessor am SFI, Nigel Franks von der University of Bristol in England und ich, von der Cornell University, beide Biologen spezialisiert auf soziale Insekten, jeweils einen Workshop am Santa Fe Institute, mit der Fragestellung, wie man Gruppenentscheidungsprozesse optimiert. Der Workshop mit dem Titel „Kollektive Entscheidungsfindung: Von Neuronen zu Gesellschaften“, brachte rund 20 Experten aus den Bereichen Verhaltensforschung, Neurowissenschaft, Politikwissenschaft und Organisation zusammen, um gemeinsame Merkmale von natürlichen Systemen, wie Affenhirne, Ameisenkolonien und Städte wie Vermont, zu untersuchen, die alle eine gute kollektive Entscheidungsfindung aufweisen.

Ein Teil der Attraktivität dieses Themas ist es, Strategien anzubieten, um die Entscheidungsfindung  von menschlichen Organisationen zu verbessern.  Die Diskussion konzentrierte sich auf das Szenario, in dem eine Gruppe eine kollektive Entscheidung trifft, die für alle ihre Mitglieder verbindlich ist. Beispiele dafür sind menschliche legislative Entscheidungen in Bezug auf die Verabschiedung eines neuen Gesetzes, die Auswahl der Fahrtrichtung einer geschlossenen Gruppen und visuellen Neuronen bei der Entscheidung über die Richtung eines sich nähernden Objekts. Die grundlegende Frage ist, wie man eine Entscheidung trifft, die auf einem Pool von Informationen basiert, die über die Mitglieder der Gruppe verteilt ist. Die Gespräche im Rahmen des Workshops zeigten erstaunliche Übereinstimmungen zwischen den Mechanismen der Entscheidungsfindung im Gehirn von Primaten, Insektenstaaten und Bürgerversammlungen in New England.

In jedem System, verfügen die einzelnen Mitglieder der Gruppe nur über begrenzte Informationen als auch über eine begrenzte Intelligenz, und doch trifft die Gruppe als Ganzes erstklassige kollektive Entscheidungen. Außerdem ist in jedem System der Entscheidungsprozess eine Art von „Beliebtheitswettbewerb“, ein Rennen zwischen konkurrierenden Ansammlungen von Beweisen, um verschiedenen Alternativen zu unterstützen. Der Gewinner ist der Erste, der genügend Beweise (Unterstützung) sammelt, um eine kritische Schwelle (Quorum) zu überschreiten. Je besser die Wahl, desto schneller gewinnt das „Mitglied“  (Neuronen, Insekten, oder Personen) Unterstützer, und desto wahrscheinlicher ist es, dass diese erste Alternative dann genügend Unterstützung gewinnt, um dann die Wahl der „Gruppe“  zu werden.

Es scheint, dass ein wichtiges Merkmal all dieser Systeme die richtige Mischung aus Unabhängigkeit und wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Gruppenmitgliedern ist.

Einzelpersonen beurteilen in der Regel die Qualität der verschiedenen Alternativen unabhängig voneinander. Aber sie werden auch eher solch eine Alternative unterstützen, die von anderen weitaus stärker unterstützt wird.  Zum Beispiel in einer „Debatte“ bei den Ameisen, über welcher Felsspalte ihre neue Heimat sein sollte: diejenigen, die eine erstklassige Stelle gefunden haben, werden am stärksten dafür werben   und erzeugen die stärkste positive Rückkopplungsschleife von Unterstützern, die wiederum neue  Unterstützer rekrutieren – solche die am lautesten rufen sind, anders gesagt, die, die am überzeugendsten sind.

Ohne ausreichende Unabhängigkeit bei der Bewertung der Alternativen kann eine Informationskaskade (Gruppendenken) zu einer schlechten Entscheidung führen. Dies geschah bei der Space Shuttle Columbia-Katastrophe im Jahr 2003, in dem Linda Ham, die Leiterin der Mission Management Team, es nicht unterstütze, dass über die Folgen der Schaumstoffisolierung, die während des Startes gegen den Shuttle-Flügel schlug, unabhängige Ansichten geäußert werden.

Ebenso kann – ohne ausreichende wechselseitige Abhängigkeit – die Entscheidungsfindung auch  suboptimal sein, da die Gruppe ihre Informationen über gute Alternativen nicht ergänzen kann. Diese Situation entstand im AIG-Debakel. Einige Personen im Unternehmen wussten, dass der Verkauf von Credit Default Swaps riskant war, konnten aber keinen Einfluss auf die nehmen, die entschieden haben dies zu tun (dummerweise, wie wir jetzt wissen). Es gab keine ausgiebige Diskussion über die Weisheit dieser Entscheidung, und damit keine Chance für gegenseitige Abhängigkeit.

Der Workshop zeigte wichtige Wege für zukünftige Untersuchungen auf. Forschungen über individuelle Entscheidungen haben gezeigt, dass Menschen viele ungewollte Verzerrungen zeigen, wenn sie schnelle, intuitive Urteile fällen.

Beispielsweise werden Sie danach gefragt, die Trächtigkeit von Tier X (Elefanten, zum Beispiel) abzuschätzen, dann neigen die Menschen zu neun Monaten. Dies ist ein Fall einer unbeabsichtigten „Verankerung“ – man neigt zu einem Wert, der einem  vertraut ist, selbst wenn dieser irrelevant ist.

Das Problem kann mit bestimmten Denkgewohnheiten überwunden werden, gewissermaßen sein  eigener „Advocatus Diaboli“  sein, um intellektuelle Überlegungen auslösen.

Sind Gruppenentscheidungen anfällig für solche vergleichbaren Verzerrungen, und wenn ja, was für Strategien gibt es um diese zu vermeiden? Wenn die Diskussion einer Gruppe unzureichend zu sein scheint, könnte es für die Beratung  förderlich sein, gegenseitiges positives Feedback zwischen ihren Mitgliedern zu schwächen, oder indem man die kritische Höhe, die man für eine Unterstützung benötigt, um sich für eine Alternative zu entscheiden, erhöht?

Mit solchen Fragestellungen verließen die Teilnehmer den Workshops, zusammen mit einer neuen Wertschätzung für die Gemeinsamkeiten der kollektiven Entscheidungsfindung innerhalb eines weiten Wissenschaftsspektrums.

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